Immutable: Designing History ist ein neues, vom [niederländischen Kurations- und Publikationsprojekt] Onomatopee veröffentlichtes Buch des Grafikdesigners und Pädagogen Chris Lee. Es folgt einer thematischen Genealogie des Dokuments – dem banalsten Genre im Grafikdesign – und dessen Verschränkung mit Staatskunst und Kolonialismus/Kolonialität. Das Buch wirft die Frage auf: Was wäre, wenn sich die Pädagogik der Designausbildung nicht um Logos, Webseiten, Bücher und Apps, sondern um das Dokument selbst drehen würde, z.B. um Geld, Reisepässe, Grundbücher, Geburtsurkunden und so weiter? Eine solche Spekulation ist nicht daran ausgerichtet, neue "Best-Practice"-Curricula vorzuschreiben, sondern klagt die Verschränkung des Grafikdesigns mit der quasi-apokalyptischen Konsequenz des kolonialen Staats und des kapitalistischen Unternehmens an. Beides sind bürokratische Regime, deren dokumentarische Artefakte eine onto-epistemische Täuschung verwirklichen, indem sie dichte und plurale Welten wie selbstverständlich in die Verwaltung ihrer eigenen Angelegenheiten verflachen. Das ist über eine Zeitfolge von grob 5000 Jahren nachvollziehbar, in denen sich die Entwicklungen in Geld und Schrift überlappen – von mesopotamischen Tontafeln hin zu Blockchain-Konten. Unveränderlichkeit figuriert also als Design-Imperativ und als Hermeneutik für (materielle, technologische, mörderische und administrative) Techniken der Verbriefung gegen die Entropie des Dokuments im Lauf von Zeit, Raum und Disput. Auf der in Immutable gebotenen Grundlage kann darüber spekuliert werden, welche Rolle Design darin haben kann oder nicht, koloniale und kapitalistische Arten des Wissens und Erinnerns zu dekonstruieren, ihnen entgegenzutreten oder sie gar zu tilgen.1 Des Weiteren soll das Buch die Kontingenz und Veränderlichkeit dieses kolonialen und kapitalistischen Wissens und Erinnerns anerkennen und betonen, indem Praktiken und Lebensweisen erkundet werden, die sich dagegen widersetzen.
CHRIS LEE: Als Einstieg wollten wir ein Gefühl dafür bekommen, was mit Unveränderlichkeit gemeint ist. Diese Münze (Abbildung 1) veranschaulicht in ihrer Gestaltung einige "Techniken" und erzählt von ihnen. Sie hat drei Oberflächen und legt ebenso viele Möglichkeiten nahe. Die "Kopf"-Seite ist eine Reproduktion des Relief-Bildes oben an der Hammurabi-Stele, einer der frühesten Aufzeichnungen eines umfassenden Rechtskodexes aus dem 18. Jahrhundert vor Christus.2 Jeder Rechtskodex ist in sich streit- und anfechtbar. Eine Inschrift auf der Stele unmittelbar unter dem Relief besagt jedoch, dass dieser Kodex nicht die Erfindung eines fehlbaren Sterblichen sei, sondern göttlichen Ursprungs – der Sonnengott Schamasch (sitzend mit ausgestrecktem Arm) habe sie Hammurabi (stehend) überreicht – und somit über alle Kritik erhaben. Übliche Interpretationen der Szene erkennen in den Objekten in Schamaschs Händen – ein Ring und ein Zepter – Symbole der Macht. Andere Interpretationen entziffern die Formen als Pflock und Spule, Werkzeuge zur Landvermessung – ähnlich der etwas bekannteren Vermessungskette Gunter‘s Chain –, die von der ultimativen richterlichen Autorität getragen werden und für das göttliche und ausschließlich gesetzmäßige Recht zur Vermessung stehen.
Figure 2. Chris Lee, detail from a 3D scan (point cloud) of Hammurabi’s Stele, 2017. Note the peg and coil (often interpreted as a rod and sceptre) held in the right hand of Shamash (the seated figure on the right). Courtesy of Chris Lee.
Figure 3. Gunter’s chain, designed by English clergyman and mathematician Edmund Gunter (1581–1626), was used for land surveying until the early twentieth century. It served as a legal standard for measuring property for judicial and commercial purposes throughout the British Empire and enabled the drawing of enclosures. One whole chain contained one hundred iron links, with three joints between each link for flexibility. Distinctive (brass) tags were placed every ten links for ease of use, measuring 10.06 metres in length. Credit: Preston R. Bassett, National Museum of American History, Smithsonian Institution, Washington, DC, https://americanhistory.si.edu/collections/search/object/nmah_1065091 (accessed 5 December 2022)
Es gilt auch zu unterstreichen, dass dieser Gesetzeskodex sorgfältig in schwarzen Diorit eingeschrieben wurde und auf einem orthografischen Gitter ausgebreitet ist, so dass die gemeißelten weißen Inschriften aus dem polierten dunklen Steinträger deutlich aufscheinen – einem Speichermedium, das über Jahrtausende hinweg Informationen übermitteln kann. Seine Verbriefung liegt auch in der Errichtung einer Art morphologischer Normativität. Die fein gemeißelte Keilschrift war nicht zu verändern, ohne den Verdacht der Fälschung zu erwecken. Im Prinzip wäre jeder Versuch der Abänderung der Kodex-Inschrift in dem absichtlich geglätteten Stein und innerhalb des eng geplanten grafischen Raums offensichtlich gewesen.
Figure 7. This example of an assignat, designed by Jean-Pierre Droz, also includes inscriptions that threaten counterfeiters with death and promises to reward informants.
Domaines nationaux, France, designed by Jean-Pierre Droz, Assignat de vingt-cinq sols, 1790–96, print, paper, 6.0 x 9.7 cm. Courtesy of the Rijksmuseum, Amsterdam, rijksmuseum.nl/en/collection/RP-P-OB-86.594-5 (accessed 5 December 2022). Public domain.
Figure 8. Inscriptions that threaten counterfeiters and/or promise to reward those who report on them can be found on some of the earliest examples of paper money from Ming Dynasty (1368–1644), China. The introduction of printing techniques using moveable typography for the production of paper money opened up a vulnerability to the state’s exclusive right and capacity to inscribe value. Threats and warnings remind citizens of the state’s power to determine whether someone lives or dies. The inscription’s securitisation here rests not on the divine authority of a deity but on an appeal to its modern, political iteration. Photograph and scan courtesy of Chris Lee, 2017.
Die "Zahl"-Seite der Münze vervielfältigt die Inschrift "To Counterfeit is Death" ("Fälschen bedeutet den Tod"), die veranschaulicht, mit welchem Zwang der Wert/die Bedeutung einer Inschrift geschützt wurde. Sie wurde direkt von den Papierscheinen aus den britischen Kolonien an der nordamerikanischen Ostküste übernommen, die zu Zeiten des Amerikanischen Unabhängigkeitskriegs gedruckt wurden. Angesichts eines Mangels an verlässlichen Münzen druckten koloniale Verwalter Geld, um die lokale Wirtschaft anzukurbeln. Ähnliche Drohungen sind auf anderen Exemplaren von Geldscheinen zu finden. Das erste, archäologisch nachgewiesene, in China gedruckte Papiergeld enthält eine Warnung, die sich folgendermaßen übersetzen lässt: "Der Kaiser bestraft Fälscher·innen; Informant·innen werden belohnt" (siehe Abbildung 8). Rund 500 Jahre später enthielt auch die Assignate (Abbildung 7), die Jean-Pierre Droz für die Lohnzahlung französischer Soldaten bei der Besetzung der Niederlande entwarf, eine ähnliche Warnung. All diesen Fällen liegt die Einsicht zugrunde, dass bedrucktes Papier als Geldform überaus angreifbar und unsicher war und dass die zuvor durch wertvolle Metalle gegebene Verbriefung hier stattdessen vom Staat geleistet werden musste.
Figure 4. Province of New Jersey, 12 shillings colonial currency (reverse), signed by Robert Smith, John Hart, and John Stevens, Jr., Friedberg Colonial ref# NJ-179, printed by I. Collins, 1776, print, paper, 5.6 x 9.9 cm. Courtesy of the National Numismatic Collection, Smithsonian Institution, Washington DC. Wikimedia Commons (CC-BY-SA-3.0).
Figure 5. Province of Maryland, $1 colonial currency (reverse), signed by John Clapham and Robert Couden, Friedberg Colonial ref# MD-55, printed by Anne Catherine and William Green, 1770, print, paper, 6.2 x 11.2 cm. Courtesy of the National Numismatic Collection, Smithsonian Institution, Washington DC. Wikimedia Commons (CC-BY-SA-3.0).
Figure 6. Delaware Colony, 4 shillings colonial currency (reverse), signed by John McKinly, Thomas Collins, and Boaz Manlove, Friedberg Colonial ref# DE-76, printed by James Adams, 1776, print, paper, 8.5 x 7.0 cm. Courtesy of the National Numismatic Collection, Smithsonian Institution, Washington DC. Wikimedia Commons (CC-BY-SA-3.0).
Figure 9. A decommissioned £50 note depicting Matthew Boulton on the left and James Watt on the right. It is protected by various security features (“silent policemen”). Annotations on the image read as follows: 1. Cotton-based paper; 2. Microprinting; 3. Motion threads and randomly dispersed UV threads, ¬visible under UV light, ¬throughout; 4. Metallic thread; 5. EURion field; 6. See-through, register of, “£” symbol; 7. Watermark; and 8. Serial number. Bank of England, 50 Pound banknote, showing Elizabeth II, Matthew Boulton, and James Watt. Printed by Thomas de la Rue & Company Ltd. (London), 2011, ink, paper, various security features, 15.6 x 8.5 cm. Courtesy of the Museum of Applied Arts & Sciences, Sydney, ma.as/426371.
Die dritte Oberfläche ist der Rand der Münze. Wir sehen hier eine "geriffelte" oder "gerändelte" Kante. In einer Zeit, als Münzen in wertvolle Metalle geprägt wurden, gab es eine kriminalisierte Praxis, die "Beschneidung" genannt wurde. Dabei wurden die Ränder von Münzen abgefeilt oder abgeschnitten, um etwas Gold oder Silber zu gewinnen und der Münze zugleich ihren Nennwert zu lassen. Solche Praktiken wurden hart bestraft – manchmal mit dem Tod. Doch die umfassende Durchsetzung des Verbots wurde finanziell wie politisch teuer. Die Münzprägestätte Soho Mint, die von Matthew Boulton, dem frühen britischen Industriellen und Geschäftspartner von James Watt, gegründet wurde, stellte daher mehrere Personen ein, die technische Möglichkeiten entwickeln sollten, um gestaltete Ränder in Münzen zu prägen. Ränder mit Inschriften erzeugten dann einen Normalzustand, der den Empfänger:innen einer Münze durch die Anwesenheit einer geprägten Kante mehr Vertrauen in die Lauterkeit ihres Nennwertes gab. Das Fehlen der Prägung würde unmittelbar zum Verdacht führen und die Münze delegitimieren.
Figure 10. The clipped edges of coins. Photograph courtesy of Chris Lee, 2017.
Figure 11. Jean-Pierre Droz, segmental collar for impressing designs into coin edges, 1788. Photograph by FRAUD. Courtesy of Revolutionary Players.
Als Begleiterscheinung dieser Entwicklung wurde Boultons Münzprägestätte zur ersten, die eine dampfbetriebene Presse nutzte. Münzprägung war tatsächlich einer der früheren Anwendungsbereiche von Dampfmotoren. Die Industrialisierung des Prozesses nahm den Schlüsselverfahren der Münzherstellung die Fehlbarkeiten des menschlichen Handwerks. Die Maschinen nutzten zum Beispiel mechanische Zähler, die jede gepresste Münze verzeichneten: eine Maßnahme für Transparenz und Verantwortlichkeit. Indirekt könnte diese algorithmische Berechnung als urtümliche Vorgängerin zu Technologien wie der Blockchain in ihrer Anwendung für Kryptowährungen wie Bitcoin gesehen werden. Das heißt, Unveränderlichkeit entstand, als die Inschriften frei von subjektiven, menschlichen Eingriffen in Münzen geprägt wurden. Der Algorithmus (z.B. SHA-256) könnte eine zeitgenössische Version der göttlichen wie staatlichen Autorität sein, was im plakativen Spruch "Code is Law" veranschaulicht wird, der bei Krypto-Enthusiast:innen beliebt ist.
Das Buch (Immutable) ist somit ein erster Streifzug in eine Bandbreite an Techniken der Unveränderlichkeit, es befasst sich mit Techniken der Gestaltung von Dokumenten. Auch wenn darin kein Anspruch an Vollständigkeit und Unumstrittenheit liegt, umfasst der Band: das Materielle (z.B. Ton oder Stein), das Technische (z.B. Druck oder Reproduktion), das Tödliche (z.B. "Fälschen bedeutet den Tod"), das Orthografische (z.B. Grammatik oder Bildung), das Algorithmische (z.B. die Blockchain), Geschwindigkeit/Verschiebung (z.B. das Tiefseekabelnetzwerk). Vielleicht können wir auch in unserem Austausch über einige dieser Aspekte sprechen.
FRAUD: Einerseits haben wir das Design, worin Standardisierung und Messung durch eine Reihe erkennbarer (und reproduzierbarer) Parameter durchgesetzt und normalisiert werden. In deiner Formulierung soll die Unveränderlichkeit also stets einen eventuellen Machtanspruch absichern. Vielleicht liegt dann in der Anfechtung der Unveränderlichkeit und der Instrumente, durch die sie sich verfestigt, auch die Anfechtung von Macht. Angesichts der zeitgenössischen Wahrheitsansprüche und der scheinbaren Unmöglichkeit, Wahrhaftigkeit zu beweisen, möchten wir das Konzept der Narration (ein langwährendes Bollwerk im Design) als einen Ort der Inkraftsetzung von Macht thematisieren: wo also Design und Macht im Verbund die Dominanz einer bestimmten Erzählung bewirken, indem sie die Wahrheit prägen und regieren.
Du zeigst in deinem Manuskript mehrere archäologische Artefakte, wie die Hammurabi-Stele oder Calculi-Rechensteine, die als Werkzeuge Standardisierungen und Machtansprüche materialisierten. Wir bieten hier nun ein Beispiel dessen, wie Archäologie veränderlich sein kann und archäologische Beweise zur Waffe gemacht werden; in diesem Fall wurden sie vom Franco-Regime instrumentalisiert.
Figure 12. FRAUD, Fictions of the primitive II, 2020, glass formed from sand sourced from Playa Mogán beach (Gran Canarias), glass blowers Torsten Rötzsch and Louise Lang. Dimensions of glass are 30 x 25 x 25 cm. Photograph courtesy of Hannah Jung.
Figure 13. The earliest archaeological reports from studies conducted on the Canary Islands are, arguably, those by Sabin Berthelot, in which there is also an attempt to trace commonalities with French artefacts in a move to claim rights of access to the territory. S. Berthelot, (1879) Antiquités canariennes ou annotation sur l'origine des peuples qui occupèrent les iles fortunées, depuis les premier temps jusqu'à l'époque de leur conquête, Paris, E. Plon et Cia, 1879, Plate 11.
Figure 14. Ceramics from Western Sahara studied by Martinez Santa-Olalla, who, despite evidence to the contrary, affirmed them to be the precursor of the Canarian gánigo. This ‘evidence’ was instrumental to the justification of Spain’s occupation of that territory (then Spanish Sahara). J. Martinez Santa-Olalla, El Sahara Español Anteislámico (Algunos resultados de la primera expedicion paletnologica al Sahara, Madrid, Ministerio de Educación Nacional, 1944, Plate 146, 147.
Dessen Beamte, etwa Julio Martinez Santa-Olalla und Martín Almagro Basch, formulierten archäologische Theorien, die die neu "erlangten" Landansprüche des spanischen Regimes legitimieren sollten. Sie behaupteten fälschlicherweise, dass die kanarischen Gánigo – spezielle Gefäße aus Ton, die sowohl häusliche als auch religiöse Funktionen erfüllten – der Keramik aus der Sahara ähnlich seien, die in den Wüsten-Wadis – meist trocken liegenden, saisonalen Wasserläufen – vergraben wurden, um Regenwasser aufzufangen. Die spanischen Territorialansprüche über das Kanaren-Archipel dienten dazu, das spanische Protektorat über Marokko und die West-Sahara für rechtsgültig zu erklären: Regionen mit reichhaltigen Ressourcen, wie Phosphatgestein, Sand, Fischgründen sowie Erdölvorkommen an Land. Während das Argument der Provenienz genutzt wurde, um die Besatzung zu rechtfertigen, glänzten die archäologischen Funde für Spanien vor allem im Sinne des exportorientierten Ressourcenraubbaus. Die fiktionalen Narrative wurden aber teils durch den Tourismus normalisiert. Während das Nachkriegseuropa als Freizeitzivilisation3 aufgebaut wurde, band der Propaganda-Apparat des spanischen Staates den Tourismus als strategischen Export ein. Eine der dabei wichtigsten Abteilungen war das Ministerium für Information und Tourismus, das auch als Propaganda-Ministerium gilt. Während der gesamten faschistischen Moderne Spaniens folgte auf die aggressive Entagrarisierung der kanarischen Inseln eine am Tourismus ausgerichtete Entwicklung. Die charakteristischen goldenen Sandstrände auf den westlichen Kanaren wurden wirkungsvoll mit rechtswidrig aus der West-Sahara importiertem Sand hergestellt – eine Praxis, die seit Jahrzehnten dokumentiert wird und bis heute stattfindet.4
Die hier gezeigte Replika des Gefäßes (Abb. 12) wurde von den Glasbläser:innen Torsten Rötzsch und Louise Lang aus Glas hergestellt, das aus jenem Sahara-Sand geschmolzen wurde, der die westlichen Strände Gran Canarias säumt. Anekdotenhaft war es eben dieser Sand, der die deutschen Tourist:innen so entzückte – die am stärksten vertretene Gruppe Reisender auf den kanarischen Inseln in den 1960er Jahren, als dort der Tourismus am rasantesten wuchs. Die Anwesenheit der Tourist:innen und ihr dokumentiertes Freizeitvergnügen zeugten auf entscheidende Weise von der Akzeptanz des Regimes im Ausland. In diesem Sinne bezeugt die Replika Fiction of the Primitive II die Veränderlichkeit einer Erzählung, mobilisiert durch Freizeit und deren Repräsentation in Form von Postkarten mit Bildern von goldenen Sandstränden voller Menschen sowie besonderer Keramik mitsamt der obligatorischen Grußformel "Viele Grüße aus Canaria". Was geschieht, wenn archäologische Beweise selbst veränderlich sind, wenn ihnen im zeitlichen Wandel und bei wechselnden politischen Regimen unterschiedliche Bedeutungen zugeschrieben werden? Während wir erleben, dass ähnliche Fehlinterpretationen wieder aufkommen, können wir Immutable auch als Werkzeugkasten verstehen, mit dem wir diesen Phänomenen entgegentreten können? Handelt es sich nicht bloß um Werkzeuge der visuellen Kompetenz zur Entschlüsselung von Symbolen, sondern auch um eine Pädagogik, die sich an immer-veränderlichen, aber auf Meta-Ebene verfestigten Mächten ausrichtet?
Vielleicht ist dies ein passender Übergang, um uns mit der bereits erwähnten Technologie der Blockchain zu beschäftigen, die Kryptowährungen und NFTs zugrunde liegt. Vorgeblich sollte sie die Macht traditioneller institutioneller Kräfte über die Währung und die Kunstwelt anfechten. Wir bemerken natürlich die Ironie, dass dieser ideologische Trotz auf der Grundlage einer absoluten Unveränderlichkeit angewandt wird. In deinem Manuskript webst du ein starkes Argument, in dem du den Ort der Objektivität von jenem des göttlichen Ursprungs – symbolisiert etwa in Hammurabis Pflock und Spule – hin zu dessen Ersatz durch nicht-menschliche Vervielfältigung nachvollziehst, die als rein objektiv verstanden wird – wie etwa das Grundstücksvermessungssystem in den USA (Public Land Survey System). Das Machtinstrument wird anonymisiert und auch nicht leichter zu verantworten, wenn es nicht länger bei den Göttern liegt, sondern bei einer Vervielfältigungstechnologie. Kryptowährungen (und NFTs) werden unter dem Dach ihrer technologischen Unveränderlichkeit betrieben; ihre Stärke liegt genau in dem Versprechen, eine exakte, unveränderte [und einzigartige] Sequenz zu liefern, wobei die Unveränderlichkeit von den endlichen Grenzen der Rechnerkraft gewährleistet wird, die bislang nur von Quantencomputern potenziell herausgefordert werden konnte. In deinem Buch entwickelst du diese Fragen in Bezug auf Maßstandards und spürst dem Ort der darüber regierenden Autorität von einem göttlichen Ursprung bis zur [quasi-]göttlichen Objektivität der nicht-menschlichen Vervielfältigung nach. Könntest du diesen Gedankengang ein bisschen für uns ausführen? Und auch deine Überlegungen zur Übernahme des Unveränderlichen durch die "vektoralistische Klasse"5 , die Unnachgiebigkeit der Blockchain und die Frage, wohin uns das im Kontext deines Aufrufs zu einem Grafikdesign führt, das Kontingenz, Verhandlung und Entropie begrüßt.
CHRIS LEE: Euer Beispiel der Frankistischen Mobilisierung der Archäologie und des Tourismus – oder vielmehr die Verkleidung von Artefakten mit nationalen Ursprungsmythen auf der Grundlage oberflächlicher Formähnlichkeiten zwischen den Keramikgefäßen der Sahara und den kanarischen Gánigo – ist m.E. ein ziemlich passendes Beispiel für die Überlappung von Design und Geschichtsschreibung. Auch stimme ich eurer Analyse zu, dass die Narration hier das Grundproblem darstellt. Denn auch, wenn die Faktizität von Behauptungen über ein Artefakt ausreichend unstrittig ist – aus Ton hergestellt, in Marokko [bzw. Westsahara] gefunden, x Jahre alt, bestimmte Maße usw. –, die Lücke zwischen den Objekten und den Wahrheiten, auf die sie Anspruch erheben, im Arrangement dieser Fakten erkennbar wird. Sogar, wenn wir uns auf die Frankistische archäologische Vorannahme einlassen, dass die spanische, saharische und kanarische Keramik irgendwie in direkter genealogischer Verwandtschaft zueinander stehen, trägt die Behauptung einer historischen politischen Einheit auf Grundlage dieser Formähnlichkeiten nur so weit, wie das Argument, dass die Menschen, die auf den Kanaren landeten, tatsächlich vor ihren menschlichen Verwandten auf dem Kontinent flohen, um sich von ihnen zu trennen. Anstatt also von einem geteilten mythologischen Ursprung zu zeugen, erzählen diese Keramiken womöglich auch die Geschichte einer historischen Spaltung.
In jedem Fall scheinen solche Frankistischen oder nationalistischen archäologisch begründeten Narrative ihre Erzählung auf der Idee beruhen zu lassen, dass Provenienz gleichbedeutend mit Beweis sei. Wenn es um etwas wie die Blockchain-Technologie geht, können wir erkennen, dass deren Funktionieren auf einer ähnlichen Prämisse beruht. Die andere hier mitspielende Methode, um Unveränderlichkeit zu realisieren – als Prozess, der verhindert, dass eine Inschrift angefochten werden kann – hängt mit der Verschiebung der Autorschaft auf eine dritte Handlungsinstanz zusammen. In der Frankistischen Geschichte oben steht für diese dritte Handlungsinstanz die "unsichtbare Hand" der wiederholenden kreativen Nachahmung, der Gewohnheit und der handwerklichen (d.h. gesellschaftlich spezifischen) Tradition. Bei der Blockchain ist es die "unsichtbare (algorithmische) Hand", die durch "Schürfen" SHA-256-Hashwerte erzeugt und sie mit anderen Hashwerten, Zeitstempeln und einzigartigen Noncen umhüllt, um den Anspruch an die Einzigartigkeit ansonsten unendlich reproduzierbarer digitaler Artefakte (z.B. Bitcoins) zu stabilisieren. Die symbolische Legitimität von Blockchain-Artefakten wie Kryptowährungen beruht auf diesem unpersönlichen und dabei angeblich unpolitischen, autonomen und nicht-institutionellen Beschreibungsprozess.
Gibt es eine technisch-fortschrittliche Erzählung zu Techniken der Unveränderlichkeit, so handelt es sich um eine düstere Parabel, als deren aktuelle Krönung eine universell erzeugte autonome Koordinierungsinstanz in der Cloud gilt, aus deren grafischem Beschreibungsprozess menschliche Fehlbarkeit und politische Kontingenz verbannt wurde. Das ist bei Weitem keine Verbesserung und auch kein Zeichen des Fortschritts, sondern bringt uns vielmehr an dieselbe Stelle wie die Investitur von Hammurabi – die Einkleidung des babylonischen Königs – mit den Symbolen der Sonnengottheit, der allein das Recht zusteht, zu messen und zu zählen. Laut einer der englischen Übersetzungen lautet die Inschrift direkt unter dem Relief-Bild in etwa: "Ich bin Hammurabi, König der Rechtschaffenheit, dem Schamasch das Gesetz übertragen hat."6 Es handelt sich um eine Verschiebung der Autorschaft und Autorität auf eine tadellose Gottheit. Vielleicht sind Ursprung und Verschiebung zwei Aspekte derselben Technik – der Hinziehung zu etwas Fernem, z.B. einem mythischen oder göttlichen Ausgangspunkt.
Ich möchte hier ein wenig mit den Bedeutungen der Wörter appeal/appeler (englisch: Anziehung, aufrufen/ französisch: rufen) spielen und darüber nachdenken, wie sie Design in Beziehung zu der Unnachgiebigkeit der Blockchain setzen. Einerseits gehören zu den Synonymen Wörter wie designate (bezeichnen/benennen), nominate (ernennen, nominieren), denominate (kategorisieren, ordnen), die m.E. alle der Praxis dessen nahestehen, was Paulo Freire als "Benennung der Welt" bezeichnet hat.7 Andererseits wurde die Blockchain genau dazu gestaltet, eine Schließung bezüglich des Schreibens und Benennens in Kraft zu setzen. Schreiben und Benennen – als Formen der Handlungsfähigkeit – werden hier an einen Prozess abgetreten, bei dem keine praktische Möglichkeit der Verhandlung, Veränderung oder Verneinung besteht. Er steht also sinnbildlich für ein Szenario, das dem Politischen entzogen ist. Im Wesentlichen ist die Blockchain eine Anrufung der autonomen Wirkmacht eines algorithmischen Prozesses – einer [vermeintlich] unvoreingenommenen, objektiven und erwiderungslosen Autorität.
Hier mache ich nun einen Boden für ein mögliches Forschungsfeld aus; vielleicht um eine Wissens- und Schaffensgemeinschaft zu initiieren, die Formen untersucht und hervorbringt, welche – im Gegensatz zu der archivarischen Unzerstörbarkeit, nach der die Blockchain-Technologie und andere dokumentarische Formate streben – Wissen und Erinnerung erzeugen und dabei deren Kontingenz und Verhandelbarkeit anerkennen.
In Teilen zeigt sich dies im Beispiel der lokalen Schwundgeld-Währung in Wörgl, Österreich, während der Weltwirtschaftskrise ab 1929. Die Haupteigenschaft dieser Währung war, dass ihre Nutzer:innen jeden Monat eine Wertmarke auf jeden Schein aufbringen mussten, um sie ausgeben zu können. Doch jede Marke stand für eine Verringerung des Nennwertes um etwa 1%, was die Auswirkung hatte, dass das Geld über die Zeit seinen Wert verringerte – ungefähr so, wie es auch natürliche Güter tun. Das hatte den makroökonomischen Effekt, dass die relative 'Geschwindigkeit' des Umlaufs erhöht wurde. So konnte eine kleine Zahl an Schillingen in einem gleichen Zeitraum einen exponentiell größeren Umfang an Tauschgeschäften ermöglichen als es der offiziellen Währung möglich gewesen wäre. Mit diesem Beispiel soll vor allem verdeutlicht werden, dass Entropie als beabsichtigtes Gestaltungsmerkmal offenbar nachteilig für die fortschrittliche Orientierung in Innovation und Design ist.
Andere Präzedenzfälle und die potenzielle Historiografie8 einer solchen gestalterischen Praxis sind in Gesellschaften zu finden, deren Namen verdrängt und ausgelöscht wurden und denen andere Namen auferlegt wurden, die dieses oder jenes koloniale Gebilde hervorbrachte. Das hat in einem Ausmaß stattgefunden, dass Design als Forschungs- und Praxisfeld verstanden werden kann, in dem auferlegten Namen mit Alternativen entgegengetreten wurde und wird, die Ariella Aïsha Azoulay als "potenzielle" Namen bezeichnet. Diese Historiografie könnte auch "kriminelle" Praktiken umfassen, vom Fälschen bis zur offenen Zerstörung. David Graeber hat uns erinnert, dass im Altertum jeder Aufstand der unteren Klassen in irgendeiner Form die Zerstörung der Aufzeichnungen umfasste, die vom unterdrückenden Gebilde erstellt und aufbewahrt wurden.9 Und inwiefern sind solche Praktiken relevant für Design? Wenn deutlicher wird, worum es hier im Großen geht, sind wir vielleicht bereit, die Beschränktheit solcher beruflichen und institutionellen Kategorien hinter uns zu lassen.
Hinsichtlich Benennungen möchte ich uns in Richtung der Größenordnung von Glyphen lenken. In seinem Text zu Visualisierung und Kognition10 rät uns Bruno Latour, nach den glatten Oberflächen zu suchen, die "Beherrschung [mastery]" und "Vorherrschaft [domination]" ermöglichen. Diese Oberflächen, die häufig auf einen Schreibtisch (oder Bildschirm) passen, setzen sich aus typografischen Repräsentationen – Zahlen, Bezeichnungen – der Welt zusammen. Michael Hobart und Zachary Schiffman würden von "Investitionen" – von Einbettungen – sprechen, davon, wie die Dinge in der Welt auf eine Weise gekleidet werden, die sie als Information lesbar und handhabbar machen. Jonathan Beller würde Information ganz ähnlich als die Umstellung dichter, kontextueller Leben auf Dimensionen bezeichnen, die in Spalten und Zeilen einer Tabelle passen. Zu Zahlen digitalisiert kann das Leben eines Lämmchens zur in Wert gesetzten Ontologie von Hammelfleisch werden. Auch Johanna Drucker warnt uns, dass alle Visualisierungen (von Information) im Wesentlichen "in grafischer Form vorgebrachte Argumente" sind.11
Ich frage mich, ob wir einen Dreh dieser Ideen zu Transponierung auch auf die Größenordnung der Glyphen als Verwaltungstechnik übertragen könnten: Hier werden Dinge designiert (bezeichnet, benannt); zum Beispiel durch eine numerische Repräsentation, um sie regierbar zu machen. Wir haben uns bei anderer Gelegenheit schon ein bisschen über wissenschaftliche Forstwirtschaft unterhalten. Vielleicht können wir das nochmal aufgreifen?
FRAUD: Ja! Das Benennen als Verwaltungstechnik birgt tatsächlich die Spannung der Tilgung, der Vorschreibung, Konstruktion und Bestätigung von Identität – ein mächtiges Werkzeug in all diesen Bedeutungen. Wissenschaftliche Forstwirtschaft und Kategorisierung von Flora und Fauna, auf der sie wohl beruht, ist ein reichhaltiges Feld, in dem sich diese Spannungen ausspielen. Zum Beispiel haben wir die Forstverwaltung in Finnland (während der Zeit der Regierung durch die schwedische Krone) untersucht. Dabei stießen wir auf ein bekanntes Bild von Linné in der Kleidung der samischen indigenen Bevölkerung Fennoskandinaviens. Angesichts seiner Kategorisierung indigener Gesellschaften als "Homo Monstrosus" in seiner berühmten Ordnung der Natur Systema Naturae12 erscheint die verkörperte Art dieser Aneignung ganz besonders schäbig. Auf dem Bild hält Linné eine schamanische Trommel, die für bestimmte Rituale genutzt wird, sowie eine Blüte der Pflanzenart, die er voller Demut nach sich selbst neu benannt hatte: Linnaea borealis. Was ist das für ein Spektakel? Eine Entsakralisierung? Vorherrschaft durch Bezeichnung? Kleidet er sich in der Haut des monströsen Menschen?
Linnés Nomenklatur ist ein wichtiger Teil der Genealogie, Natur als Ressource zu sehen, für die wir uns interessierten. Sie kann dabei helfen, die ontologische, kommodifizierende Verschiebung zu beleuchten, die im Diskurs der Forstwirtschaft veranschaulicht wird. Waldwirtschaft wird häufig als notwendige Reaktion auf eine zunehmende Knappheit vermarktet und ist von wissenschaftlicher Benennung und Repräsentation geprägt. Wir haben darüber nachgedacht, wie die Natur in einem Gegensatz zur 'Zivilisation' definiert wurde und wie diese Umschreibung unser heutiges Verständnis von Wäldern prägt. Kennzeichnung und Benennung sind hier entscheidend – eine verurteilende Instanz, anhand deren Management von Umweltressourcen das sogenannte "natürliche Kapital" bewertet wird. Die Natur wird immer mehr in Finanzinstrumente eingespeist: Wenn wir das als Anwendung von ökonomischer Vernunft und Marktansätzen auf "Natur" verstehen, dann muss sich unsere Analyse den Systemen des Messens und Kategorisierens zuwenden, die in der Marktwirtschaft genutzt werden: Wie wird der Begriff "produktiv" in diesem Kontext spezifisch definiert? Der Subtext überrascht wohl kaum: Was kann für den Handel mit Gütern produktiv sein? Doch wie wird das genau vorgebracht? Lorenzo Fioramonti lenkt unsere Aufmerksamkeit auf Begriffe, die im statistischen Rahmen der UN definiert werden und Gebrauch finden, um wirtschaftliche und Umweltdaten zusammenzubringen: das System of Environmental-Economic Accounting (SEEA). Faktisch leitet dieser Rahmen die Regulierung von Ökosystemdienstleistungen an. Er ist auf einer Terminologie aufgebaut, die er selbst definiert hat. Laut dem SEEA, muss das, was als produktiv erachtet wird, "unter dem Betreiben, der Kontrolle und der Verantwortung einer Institution durchgeführt werden, die Eigentumsrechte über das ausübt, was auch immer produziert wird".13 In How Numbers Rule the World skizziert Fioramonti, wie dies implementiert wird, und zeigt, wie zerstörerisch eine solche Definition sein kann. Bezüglich des Fisches etwa: In allen Ozeanen und Gewässern der Welt wird natürliches Wachstum nicht als Produktion bewertet, wenn der Fischbestand nicht von einer proprietären Institution verwaltet wird oder in internationale Quoten eingebunden ist. Anders ist es bei der Zunahme von Fischpopulationen in Fischfarmen: Sie wird als Produktion definiert und trägt entsprechend zum Bruttoinlandsprodukt bei.14 Die gleiche Logik wird auf Wälder angewendet, wo Primärwald oder wilde, nicht kultivierte Landschaften aus dem Bereich der Produktion ausgeschlossen sind. Industrielle Wälder gelten demnach als produktiv. Das ausbeutende Wesen dieses Denkens wird peinlich konkret, wenn das Konzept der Produktivität sich auf das geflissentliche Fällen von Bäumen in wilden Wäldern ausdehnt, was in der Folge eine Zunahme des Nationaleinkommens eines Landes darstellt. Kurz gesagt: Es wäre keine Übervereinfachung festzuhalten, dass entsprechend des SEEA, einer Bezugsgröße für Ökosystemdienstleistungen, Entwaldung als produktiv bewertet wird. Zudem werden uns solche Definitionen wie die Objekte in Schamaschs Händen präsentiert: als unbestreitbar.
Und so rückt wieder das Design in den Vordergrund mit seinem großen Einfluss auf die Gestaltung des Narrativs und die Inkraftsetzung der Kapazität, die Hammurabis Stele der Macht des Messens und Kategorisierens zuteil werden lässt. Wir sollten vielleicht anmerken, dass wir das hier schreiben, während wir den US-amerikanischen Zwischenwahlen [2022] folgen. Und obwohl die Sorgen um manipulierte Wahlen nachlassen und die Trump‘sche Rhetorik mit jeder Statistik-Aktualisierung an Kraft zu verlieren scheint, sind wir versunken in Prozentzahlen und Visualisierungen, die die Wahrscheinlichkeit von Narrativen vermitteln. Wie du schon erwähnt hast, erinnert uns Drucker daran, dass Visualisierungen ein Argument sind und die Graphiken auf ein verschobenes Narrativ verweisen. Vielleicht (und wir hoffen, dass dem so ist) kontrolliert Trump nicht länger das Narrativ.15 Dieses Konzept der Prozente, das so gewichtig für das Schwanken und Schwingen mancher [US-amerikanischen] Bundesstaaten und möglicherweise der Demokratie ist, erfordert eine weitere Betrachtung der Zentralisierung, was uns zur Unveränderlichkeit der Blockchain zurückbringt.
Entropie wird durch Dezentralisierung ermöglicht. Gewiss ist das für Sprache, Standards, Maße und Weltbilder der Fall gewesen. Dies gesagt, ist nun die Rechenkraft nur einiger weniger Standorte für einen großen Anteil der Bitcoin-Produktion verantwortlich. Trotz der dezentralisierten Ideologie darum ist dieses Schürfen sehr zentralisiert.16 Das erinnert natürlich an Alexander Galloways Argument in Protocol: How Control Exists after Decentralization, in dem er die vereinfachte Ideologie vom Internet als Freiheitsraum anfechtet, indem er das hierarchische und zentralisierte Wesen des Protokolls des Domain Name System (DNS) aufzeigt, auf dem das Internet beruht. Trotz des dezentralisierten Wesens des World-Wide-Web-Protokolls (TCP/IP), schafft DNS einen Flaschenhals, der die staatliche Kontrolle des Dienstes ermöglicht, etwa zu Zwecken der Zensur oder Schließung. Galloway erinnert uns, dass die technischen Protokolle, die das Grundgerüst institutioneller Ökologien bieten, keineswegs neutral sind. Sie ermöglichen zentralisierte Eingriffe, die die politische und wirtschaftliche Agenda derer fördern, die die Netzwerkweichen steuern. Protokolle sind ein weiteres Werkzeug, das Veränderlichkeit einschränkt. Obwohl die Blockchain angeblich nicht manipuliert werden kann, zeigt uns die Repression gegen die Revolutionsbewegung im Iran, dass es anders ist: Sie erinnert uns, dass ein Narrativ auch umgelenkt werden kann, indem die gesamte Datenübertragungsrate gedrosselt wird oder indem die Internetdienstanbieter (ISPs) eines Landes dazu verpflichtet werden, durch den Einsatz bestimmter Software die Inhalte zu kontrollieren. Zentralisierung erzeugt solche Möglichkeiten – ein Grund dafür, dass die Tiefseeinternetkabel an ihren zugänglichen Stellen so massiv bewacht werden. Nach all diesen Ausführungen möchten wir zu deinem Aufruf zurückkehren, eine Schaffensgemeinschaft und Wissensproduktion zu gestalten, die ihre Kontingenzen begrüßt: Könnten wir über Entropie durch Dezentralisierung als eine Möglichkeit nachdenken, das diktatorische narrative Neu-Schreiben oder die erzwungenen Skripte und Verteilungen zu umgehen, die an die Zählsteine erinnern?
In Immutable spürst du einer wesentlichen Genealogie nach – einer Genealogie der Autorität über Standardisierung und der Bedeutung von Vervielfältigung in der Anmaßung, sich der "göttlichen Objektivität" einst göttlichen Ursprungs zu bemächtigen. Wir hätten unseren Austausch leicht mit vielen weiteren Artefakten fortsetzen können, aufbauend auf der Komplizenschaft des Designs in der Verschleierung von Machtinstrumenten durch die Konstruktion von Mythen der Neutralität (egal ob hinsichtlich Gottheiten oder dem technischen Apparat). Wir haben so viele Aspekte angesprochen, die weiter ausgeführt werden sollten: die Standardisierung von Sprache durch Drucktechnik und Staatenbildung; der wachsame Blick des EURion-Musters; die orthografische Projektion, die den Wald lesbar macht; die Verwaltung "natürlicher" Ressourcen als Brücke zwischen Standardisierung und ihrer Durchsetzung; oder die Rolle von Monstern in der Kartografie von Ressourcen. Als unvollständige Liste unserer reichhaltigen Diskussionen von NFTs bis zu Schiffswracks können diese verschiedenen, nicht ausgeführten Stränge vielleicht eine Art Vorspiel sein, das – wie Immutable – die Kontingenz begrüßt.
CHRIS LEE: Das stimmt. Es gibt viele weitere Aspekte, denen wir hier nachgehen könnten! Das könnte überall hin führen und wir laufen Gefahr, jene Leser:innen zu frustrieren, die von diesem Gespräch einen vertrauteren Verlauf erwartet haben. "Offline" haben wir alle festgestellt, dass sich unser "Gespräch" improvisiert angefühlt hat – und ich hatte den Eindruck, dass wir im Grunde unser jeweiliges "Repertoire" an Bezugspunkten miteinander in Dialog gesetzt haben. Hoffentlich wird dieses Zusammenspiel neue Berührungspunkte erzeugen, die mit den Repertoires der Leser:innen zusammenklingen. Entgegen der linear-progressiven Formen der Erzählung, die in der herkömmlichen Geschichte verbreitet ist – so kann auch die Kontingenz des Privateigentums durch den fortlaufenden Nachweis der Provenienz stabilisiert werden17 –, denke ich über sie als eine Art Erprobung für die Möglichkeiten nach, wie wir auf nicht-lineare Weise schreiben und lesen (scrollen), erinnern und erzählen können. Wir sollten aber auch Arten des Schreibens und Lesens erproben, die eine Kritik der Unveränderlichkeit in Kraft setzen oder darstellen – oder zumindest bewusst die Kontingenz begrüßen.
Chris Lee is a graphic designer and educator based in Buffalo and Brooklyn, NY. He is a graduate of OCADU and the Sandberg Instituut. His research/studio practice explores graphic design’s entanglement with power, standards, and the document. Chris is an Assistant Professor in the Undergraduate Communications Design Department at the Pratt Institute.
FRAUD is a UK-based métis duo of artist/researchers.
- 1 Obwohl die Tilgung – englisch obliteration – tendenziell auf materielle Zerstörung verweist, soll der Begriff hier eher den Zustand nahelegen, vergessen worden zu sein: oblivion, Vergessen, als Gegenteil des Erinnerns – ähnlich des französischen oublier, vergessen.
- 2 A.d.Ü.: Die deutschsprachigen Schreibweisen bezüglich der Stele entsprechen einer jüngeren Publikation dazu: Codex Hammurabi – Die Gesetzesstele Hammurabis, herausgegeben und übersetzt von Dr. Wilhelm Eilers (Wiesbaden, marixverlag, 2009); online verfügbar: https://www.verlagshaus-roemerweg.de/eshop/Leseproben/00258.pdf (letzter Zugriff am 11. Januar 2023).
- 3 A.d.Ü. Im Ausgangstext wird hier durch die Verwendung des Französischen auf das visionäre Buch des französischen Soziologen Joffre Dumazedier Vers une civilisation du loisir? (1962) verwiesen. Im Deutschen gibt es einen Diskurs zu einer (künftigen) "Freizeitgesellschaft", der jedoch etwas anders gelagert ist als Dumazediers Auseinandersetzung.
- 4 Dokumentiert von Western Sahara Resource Watch, https://wsrw.org/en (letzter Zugriff am 6. Januar 2023).
- 5 A.d.Ü. FRAUD verweisen hier wohl auf McKenzie Wark; siehe u.v.a.: "The Vectoralist Class", e-flux Journal Nr. 65 (Mai 2015): https://www.e-flux.com/journal/65/336347/the-vectoralist-class/ (letzter Zugriff am 6. Januar 2023). Das Gut der "Vektoralistenklasse" – wie im Deutschen in Anlehnung an den geläufigen Begriff Arbeiterklasse häufig generisch maskulin übersetzt wurde – sind die "Kommunikationsvektoren", die Information transportieren (McKenzie Wark: Hacker-Manifest, aus dem Englischen von Dietmar Zimmer, München, C.H. Beck, 2005, Absatz 313. Online: https://monoskop.org/images/d/d5/Wark_McKenzie_Hacker-Manifest_2005.pdf , (letzter Zugriff am 6. Januar 2023).
- 6 "Code of Hammurabi", ins Englische übersetzt von L. W. King, 1907; online verfügbar: avalon.law.yale.edu/ancient/hamframe.asp (letzter Zugriff am 4. Januar 2023). Die oben genannte deutsche Publikation enthält die hier zitierte Stelle nicht.
- 7 P. Freire, Pädagogik der Unterdrückten – Bildung als Praxis der Freiheit, deutsche Übertragung von Werner Simpfendörfer, Stuttgart/Berlin, Kreuz, 1971 oder Reinbek bei Hamburg, Rowohlt, 1973.
- 8 Siehe A. A. Azoulay, Potential History: Unlearning Imperialism, London, Verso Books, 2019.
- 9 D. Graeber, Debt: The First 5,000 Years, Brooklyn, Melville House Publishing, 2011, S. 82.
- 10 B. Latour, "Drawing Things Together: Die Macht der unveränderlich mobilen Elemente (1990)( – Visualisierung und Kognition im Fokus)", in: Ziemann, A. (Hg.) Grundlagentexte der Medienkultur. Wiesbaden, Springer, 2019.
- 11 J. Drucker, Graphesis: Visual Forms of Knowledge Production, Cambridge, MA, Harvard University Press, 2014, S. xi.
- 12 Systema Naturae unterscheidet zwischen vier (rassistischen) Kategorien der menschlichen Art. Die anderen drei sind: "Homo Europaeus", hellhäutige, muskulöse, erfindungsreiche und von Gesetzen regierte Menschen; "Homo Americanus", kupferfarbene, cholerische und von Sitten regierte Menschen; "Homo Africanus", schwarze, phlegmatische, träge und von Impulsen regierte Menschen (Linneaeus 1750, S. 20-22). "Homo Monstrosus" betrachtete er als "entartete" und unberechenbare Wesen (Koerner 1999, S. 416). Wir haben hierüber an anderer Stelle ausführlicher geschrieben: www.hiap.fi/carboniferous-capitalism1 (letzter Zugriff am 4. Januar 2023).
- 13 United Nations, System of National Accounts 2008, New York, United Nations Press, 2009, S. 7.
- 14 L. Fioramonti, How Numbers Rule the World: The Use and Abuse of Statistics in Global Politics, London, Zed Books, 2014, S. 111.
- 15 Ein früheres Modell der Folgenabschätzung bezüglich Trumps Twitter-Account während der Covid-19-Pandemie findet sich in: D. P. T. Pham, N. Q. A. Huynh und D. Duong, "The impact of US presidents on market returns: Evidence from Trump's tweets“, Research in International Business and Finance, Nr. 62, Dezember 2022, 101681.
- 16 Eine Aufschlüsselung der Mining-Pool-Industrie zeigt, dass sie vornehmlich zwischen vier Unternehmen aufgeteilt ist: Foundry USA, AntPool, F2Pool und Binance Pool. Siehe: https://btc.com/stats/pool (letzter Zugriff am 11. Januar 2023).
- 17 "Der große Feind des Eigentums ist das Vergessen, da der Verlust des bewussten Beherrschens im Verlauf und Abfolge der Zeit unvermeidlich zum Zusammenbruch von Eigentum führt. Die Kräfte des Vergessens stehen also dem Selbst und dem Eigentum antagonistisch entgegen, während all die Techniken der Gedächtnisstützen ihnen wichtige Verbündete sind." (G. Caffentzis, Clipped Coins, Abused Words, and Civil Government: John Locke’s Philosophy of Money, P. Rekret, (Hg.), London, Pluto Press, 2021, S. 53–54).